September 2003

Gerhard Leo nahm als deutscher Emigrant an der französischen Resistance gegen die deutschen Faschisten teil. Heute ist er über 80 Jahre alt und noch immer politisch aktiv. Der in Berlin lebende Journalist ist seit 15 Jahren als freier Schriftsteller tätig. Seine Bücher und Übersetzungen in beide Sprachen sind in Deutschland und Frankreich erschienen.

„Die Abschiebehäftlinge brauchen unsere Solidarität“

Rotdorn: Gerhard, Du warst Teilnehmer an der französischen Resistance und hast mit der Waffe in der Hand gegen den Hitlerfaschismus gekämpft. Was ist für Dich die wichtigste Lehre aus diesen Jahren?
Gerhard Leo: Die wichtigste Lehre für mich aus dem weltweiten Kampf gegen den Hitlerfaschismus ist: Man darf nicht dulden, dass eine oder mehrere Kategorien der Bevölkerung aus der für alle geltenden Gesetzgebung herausgenommen werden. Das haben die Nazis mit den Bürgern jüdischer Herkunft, mit allen Oppositionellen getan. Heute und hier sind es die mittellosen Ausländer, die Flüchtlinge, die von den für alle anderen geltenden Freiheiten und Menschenrechten ausgeschlossen werden. Zu diesem Zweck ist vor zehn Jahren das Grundgesetz geändert worden, um unerwünschte Ausländer, die keine Straftat begangen haben, bis zu 18 Monaten ins Gefängnis zu stecken, damit ihre Abschiebung gesichert werden kann. Für mich ist das ein Grundübel unserer Demokratie, das – nicht nur im Interesse der Betroffenen – beseitigt werden muss. Die im Gegensatz zum ursprünglichen Grundgesetz stehende Abschiebehaft widerspricht allen Lehren aus unserer Vergangenheit.

Rotdorn: Weswegen werden die Flüchtlinge in Berlin-Köpenick (Grünauer Strasse) in einem Gefängnis inhaftiert?
Gerhard Leo: Die meisten Flüchtlinge kommen ganz ohne Papiere, auf jeden Fall ohne gültiges Einreisevisum nach Deutschland, und werden in der Regel schon am Flugplatz oder an der Grenze inhaftiert. Andere werden in Ausweiskontrollen gestellt. Selbst Flüchtlinge, die sich auf dem nächsten Polizeirevier oder schon an der Grenze als Asylbewerber melden, kommen in der Regel sofort in Abschiebehaft. Laut Ausländergesetz genügt der „dringende Verdacht“ der Behörde, dass der Betreffende untertauchen und sich der Abschiebung entziehen könnte, um ihn in Haft zu nehmen. Die Amtsrichter folgen in der Regel den Vorgaben der Ausländerpolizei. Die übergroße Mehrheit der Insassen im Berliner Abschiebeknast – zwischen 3000 und 4000 im Jahr, ständig etwa 300 – werden monatelang eingesperrt, weil ihnen die notwendige Aufenthaltsgenehmigung fehlte. Nur ein ganz kleiner Teil – weniger als 5 Prozent – kommt aus der Strafhaft, meist wegen kleinerer krimineller Delikte, nach Köpenick.

Rotdorn: Welche Zustände herrschen in dem Abschiebeknast?
Gerhard Leo: Nahezu alle Häftlinge fühlen sich ungerecht auf unbestimmte Zeit hinter Gittergesetzt. Hinzu kommt die Ungewissheit über ihr Schicksal: Werden sie nach sechs Monaten freikommen oder erst nach anderthalb Jahren. Werden sie mit Polizeibegleitung abgeschoben in ein Land, in dem es keine Menschenrechte gibt, in dem vielleicht Bürgerkrieg herrscht in dem ihr Leben bedroht ist? Das sind die Hauptprobleme alle Insassen des Abschiebegewahrsams. Hinzu kommen die Demütigungen durch rassistische Beamte, die es auch gibt. Weder die Leitung des Gefängnisses, noch der Innensenator, noch der zuständige Polizeipräsident nehmen Beschwerden der Häftlinge gegen rassistische Beleidigungen durch Polizisten ernst, auch dann nicht wenn sich Häftlinge einer ganzen Etage – 24 Personen – schriftlich über einen Beamten beschweren. Einen solchen Fall habe ich kürzlich erlebt. Mit Ausnahme eines befristeten Hofgangs sind die Gefangenen auf ihren Etagen. Es gibt einen gemeinsamen Aufenthaltsraum mit einem Fernseher. Für Häftlinge, die einen Selbstmordversuch unternehmen, gibt es Einzelzellen ohne Mobiliar. Die allgemeinen Zustände sind an sich nicht unmenschlich, aber die Gefangenen betrachten die ungerechte Inhaftierung als unerträglich.

Rotdorn: Was müsste sich an der rechtlichen Situation ändern?
Gerhard Leo: Die 1993 durch das veränderte Grundgesetz stattgefundene Einschränkung des Asylrechts, die wesentliche Verschärfung des Ausländergesetzes, müssen in unser aller Interesse zurückgenommen werden. Die Ausländerbehörde – offiziell firmiert sie unter dem Namen Einwohnermeldeamt – hat sich als Staat im Staate erwiesen, die weder vom Abgeordnetenhaus, noch vom zuständigen Senator fest geführt werden kann, wenn es um die Rechte der Ausländer oder Verbesserungen ihres Status geht.

Rotdorn: Was könnte die PDS in der Landesregierung unternehmen, um die Lebensverhältnisse der Flüchtlinge in Grünau zu verbessern? Oder hat sie keine Möglichkeiten dies zu tun?

Gerhard Leo: Die PDS als Regierungspartei im Berliner Senat hat natürlich nicht die Möglichkeit, die im Bundestag 1993 beschlossene Einschränkung des Asylrechtes und die Verschärfung der Abschiebehaft abzuschaffen. Aber sie hat die Möglichkeit, wie Du sehr richtig sagst, die Lebensverhältnisse der inhaftierten Flüchtlinge zu verbessern. Diese Möglichkeit hat sie genutzt. Ohne sie wären in den ersten Monaten dieses Jahres, besonders nach den massiven Hungerstreiks und den zahlreichen Suizidversuchen und Selbstverletzungen im Knast nicht eine Reihe von Verbesserungen erfolgt: Tischtennisplatten wurden aus dem Keller geholt; einige Innengitter sind vor den Fenstern entfernt worden; zwischen Gefangenen und Besuchern gibt es keine Trennscheibe mehr, man sitzt an einem Tisch mit dem Besuchten und in dem Raum gibt es auch Spielecken für Kinder; der Hofgang ist von 60 auf 90 Minuten heraufgesetzt worden. Aber das alles trifft nicht den Kern des Übels Abschiebehaft. Die Ausländerbehörde hat ihre rigorose Haftantragstellung nicht geändert und nach wie vor sollen Menschen auch in ausgesprochene Krisengebiete abgeschoben werden, auch zum Beispiel in die Republik Kongo.

Rotdorn: Vor einem halben Jahr machten die Flüchtlinge mit einem Hungerstreik von sich reden. Außerdem gab es allein in der ersten Hälfte dieses Jahres mehr als 40 Selbstverletzungen und Selbstmordversuche. Wie waren die Reaktionen?

Gerhard Leo: Die Häufigkeit von Hungerstreiks – mehr als 60 Teilnehmer an dieser Aktion Anfang des Jahres -, die vielen Suizidversuche und Selbstverletzungen haben bestätigt, wie explosiv die Situation im Knast ist und wie tief verzweifelt die Betroffenen sind. Die oben angeführten kleinen Verbesserungen sind eine Konsequenz dieser vielfältigen Proteste. Man kann sagen, dass die Berliner Presse, Rundfunk und Fernsehen in der Regel die legitimen Forderungen der Häftlinge – vor allem Beendigung der willkürlich langen Haftzeiten, der menschenunwürdigen Behandlung durch Beamte, die Verbesserung der hygienischen Zustände – wahrheitsgemäß, oft sogar engagiert unterstützte. Die christlichen Kirchen, mehrere Stiftungen, die Jusos in Berlin, die Jungdemokraten/ Junge Linke, Die Seelsorger im Gefängnis, die PDS-Abgeordneten, auch Abgeordnete der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen sind für die Flüchtlinge eingetreten. Nur die Ausländerbehörde hat ihr Vorgehen nicht geändert.

Rotdorn: Du hast Dich vor allem mit jungen Leuten zusammengeschlossen, um den Flüchtlingen praktisch zu helfen. Wie kann man zu der Gruppe hinzustoßen?

Gerhard Leo: Ich bin seit nun fast acht Jahren in der Berliner Initiative gegen Abschiebehaft tätig. Es sind vorwiegend junge Menschen, Arbeiter und Arbeitslose, Angestellte, Studenten, Journalisten, Ärzte, Sozialarbeiter usw., die ihre Freizeit opfern, um Häftlinge im Abschiebeknast, die es wünschen, zu besuchen. Durch regelmäßige Besuche bei den Flüchtlingen wollen wir einen sozialen Minimalkontakt zur Außenwelt aufrechterhalten. Die Menschen dürfen in ihrer Verzweiflung nicht allein gelassen werden. Die Bewacher sollen merken, dass ihr Umgang mit den Inhaftierten auch von außen beobachtet wird. Die rechtlichen Fragen besprechen wir mit den Inhaftierten so, dass die oft undurchsichtigen Zusammenhänge verständlich werden. Durch Öffentlichkeitsarbeit wollen wir auf das Unrechtssystem der Ausländerpolitik in Deutschland aufmerksam machen und für die Abschaffung der Abschiebehaft wirken. Wir brauchen dringend weitere Mitarbeiter in unserer Initiative. Alle Leser dieser Zeilen sind herzlich eingeladen, zu einem unserer Treffen zu kommen: Jeden zweiten Montag (an ungeraden Klaenderwochen) um 19.30 Uhr in den Räumen der Katholischen Studentengemeinde direkt am U-Bahnhof Hansaplatz, Klopstockstrasse 31, 10557 Berlin. Die Arbeit in der Initiative nutzt unmittelbar den Rechtlosen in unserer Gesellschaft. Meine Familie musste 1933 Deutschland verlassen; der Vater war jüdischer Herkunft und Sozialdemokrat. In Frankreich waren wir Asylbewerber mit einem unsicheren Status. Wer von uns überlebt hat, verdankt es der Solidarität mutiger Franzosen. Auch die Abschiebehäftlinge von heute brauchen unsere Solidarität.


Rotdorn: Vielen Dank für das Gespräch!


Das Interview führte Sebastian Körner.