Mai 2003
Eine bolivarianische Revolution
Hugo Chavez und das krisengeschüttelte Venezuela
Es gibt gegenwärtig wohl kaum ein anderes Land Südamerikas, das
die hiesigen Medien, von der „Zeit“ bis zur „Frankfurter
Rundschau“ – von „Bild“ und „Welt“ ganz
zu schweigen -, mit einem so einseitigen Etikett versehen wie Venezuela. „Bisher
hatte ich eher den Eindruck, dass grundsätzlich überall in deutschen
Zeitungen nicht falsch, aber doch sehr voreingenommen berichtet wurde, immer
aus Sicht der Opposition“ (Gregory Wilpert, US-amerikanischer Soziologe,
der in Caracas lebt gegenüber Lateinamerika Nachrichten 344). Die großen
privaten Fernsehanstalten zeigen nur die Demonstrationen der Mittel- und Oberschicht.
Das einfache Volk kam und kommt in den Sprachrohren der alten Eliten nicht
vor. „In Venezuela herrscht totale Meinungsfreiheit, soll heißen:
totale Pressefreiheit für die Unternehmer der Presse,“ urteilt
Aram Aharonian, Vorsitzender des Vereins der Auslandspresse gegenüber
dem Deutschlandfunk.
Auch nach dem gescheiterten Putsch gegen den mit großer Mehrheit gewählten
Präsidenten vom 11.April 2002, der mit „kräftiger Unterstützung
der CIA unternommen“ wurde, so Pedro Eusse, Generalsekretär des
Einheitsverbandes der Arbeiter Venezuelas, stehen sich zwei Lager unversöhnlich
gegenüber: Hier die Anhänger des Präsidenten Hugo Chavez, Menschen
vom Lande, aus den Ranchos, den Armenvierteln der Städte. Dort die Opposition,
Unternehmer, Universitätsangehörige, Lehrer, Erdölgewerkschafter,
Kirchenfürsten und die Traditionsparteien, eben die „besseren Kreise“.
Während die Opposition für sich die Vertretung der „Zivilgesellschaft“
beansprucht, müssen sich Dreiviertel der Bevölkerung, die ärmeren
Schichten der 24 Millionen Venezolaner, gefallen lassen, ungeniert als „Horden“
oder „Pöbel“ beschimpft zu werden. „Wenn Rassismus
auch nicht praktiziert wird, so ist es doch nicht zufällig, dass der
privilegierteste Teil der Gesellschaft hellhäutig ist,“ sagt Janet
Kelly, Politologin im unternehmernahen IESA-Institut. Nicht für wenige
Antichavisten ist Hugo Chavez, der zu seiner Herkunft steht, ein „mono“,
ein Affe. Dagegen meint Blanca Eckhout, Leiterin des kommunalen Fernsehsenders
„Catia TV“: „Chavez sieht aus wie wir. Er ist nicht irgendein
Anführer. Er ist verdammt noch mal jemand, der sich zu seiner bescheidenen
Herkunft, zu seinen indianischen und schwarzen Ursprüngen bekennt!“
Vorgeschichte
Seit 1958, nach dem Ende der Diktatur, wechselten sich im Zwei-Parteien-System
Venezuelas die Sozialdemokraten und die Christdemokraten in der Regierungsverantwortung
ab. Die verstaatlichte Ölindustrie warf genug Profit ab, um die herrschenden
Kreise (mittlere und höhere Einkommensschichten einschließlich der
Gewerkschaftsfunktionäre) gut zu nähren. „Die CTV (Gewerkschaftsdachverband)
war der Garant für Ruhe an der Arbeitsfront. Garant zudem für Stabilität
und Regierungsfähigkeit der jeweiligen Regierungen. Die CTV integrierte
sich in den Staat. Sie wurde zum gewerkschaftlichen Arm von Regierung und Partei.
Und schließlich gar eine Gewerkschaftszentrale, die sich mit der Unternehmerseite
verbündete,“ gibt das Vorstandsmitglied der CTV Froylan Barrios zu.
„Bei dem Dollarregen aus dem Ölgeschäft dürfte Venezuela
doch kein unterentwickeltes Land sein,“ sagt ein demonstrierender Chavist,
der aus der Provinz angereist ist.(Deutschlandfunk, Feature 4.10.02)
Die dritte Kraft in der Gesellschaft stellte die machtlose ärmere Bevölkerung,
Nachkommen der Indianer, der schwarzen Sklaven und der Mischlinge auf dem Lande
und am Rande der Städte. „5% zählen zur mächtigen Elite.
Schätzungsweise 10% gehören zur Mittelklasse. Man könnte auf
die Idee kommen, dass weniger als 20% der Bevölkerung das Recht hat, dem
Lande ihre Politik aufzuzwingen, aber dem Rest der Bevölkerung verweigert,
ihr Schicksal selber zu bestimmen,“ so der bekannte Schriftsteller Luis
Britto. Die große Mehrheit sei doch über Jahrzehnte hinweg an den
sozialen Rand gedrängt worden. Ähnlich denkt Roberto Hernandez Montoya,
Direktor des renommierten Kulturzentrums CELARG: „Diese Mehrheit ist bislang
nicht nur vom wirtschaftlichen Reichtum ausgeschlossen worden, sondern auch
von sozialen und politischen Entscheidungen wie auch von der reichen Kultur!“
1992 putschte der Oberstleutnant des Heeres Hugo Chavez gegen diese Form von
Demokratie und verschwand im Gefängnis. Im Dezember 1998 gewann der ehemalige
Fallschirmjäger, Putschist und Häftling mit 57% gegen den gemeinsamen
Kandidaten der sich sonst parlamentarisch bekämpfenden Christdemokraten
und Sozialdemokraten die Präsidentschaftswahlen an der Spitze eines breiten
Linksbündnisses, bestehend aus mehr als 12 kleinen Parteien und Bewegungen,
die im bipolaren Parteiensystem Venezuelas bislang die strukturellen Minderheiten
verkörperten. Letztendlich gewann Chavez die Wahlen gegen ein bankrottes
oligarchisches System, deren morsch gewordene Pfeiler das Zwei-Parteienmonopol
des Machtvakuums (permanenter Regierungswechsel) und die Korruption waren (Francisco
Sanchez Lopez, Brennpunkt Lateinamerika, 24,2001). Chavez politische Macht („Bewegung
für eine fünfte Republik“) wuchs trotz des Zerfalls des Linksbündnisses
durch die Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung, durch den Verfassungsplebiszit,
die Nationalrats- und Kommunalwahlen sowie durch die Präsidentschaftswahlen
im Juli 2000, die er mit großer Mehrheit (über 60%) gewann. Seine
Amtszeit reicht bis Anfang 2007.
Es gibt wohl kaum einen lateinamerikanischen Politiker – von US-Präsident
Bush nicht zu reden -, der in den letzten vier Jahren in so vielen Wahlen und
Volksabstimmungen bestätigt wurde, wie Hugo Chavez. Dieser Hintergrund
entlarvt das Gerede vom ausbleibenden demokratischen Dialog als Demagogie. „Sicher
ist Hugo Chavez mit einer besonderen Gabe gesegnet: Er kann mit dem Volk kommunizieren.
Er hat dafür ein besonderes Talent. Er kommt bei den Leuten an. Er spricht
so, dass sie ihn verstehen. Er spricht über Themen, die sie bewegen, verbunden
mit Versprechungen, die auf ihre Hoffnungen eingehen. Er ist letztlich ein klassischer
Volkstribun, der über große Fähigkeiten verfügt, die Massen
zu bewegen,“ stellt Janet Kelly, die unternehmernahe Politologin fest.
Die bolivarianische Verfassung
Nach seinem Putschversuch von 1992 vertiefte sich Hugo Chavez hinter Gefängnismauern
in Leben und Gedankenwelt Simon Bolivars, des Liberadors, des Befreiers. In
der neuen Verfassung von 2001 werden Indianern erstmals umfassende, auch kulturelle
Rechte eingeräumt; sie können in ihren Territorien die eigene Sprache
sprechen und sich selbst verwalten. Bei dem Demonstrationen für Chavez
wird dieses „blaue Büchlein“ oft hochgehalten, die stärkste
rechtliche Waffe des Volkes. „Unsere Verfassung eröffnet die Möglichkeit,
städtischen Boden per Gesetz zu ordnen und den Besitz zu regeln,“
erläutert Blanca Eckhout vom kommunalen TV-Sender. Beispielsweise kann
nun den Rancho-Bewohnern der Boden, auf dem ihre Hütten illegal wuchern,
übereignet werden und sie sind vor Spekulation und Vertreibung geschützt.
Nicht umsonst hat der nach dem Putsch für ein paar Tage ins Amt gehievte
Präsident die bolivarianische Verfassung schleunigst außer Kraft
gesetzt.
Eine Privatisierung der Ölindustrie wird in der Verfassung verboten und
die Bekämpfung der Armut wird ausdrücklich zur Staatsaufgabe erklärt.
Volksabstimmungen, Abwahl von Präsident und Ministern nach der halben Amtszeit
und viele andere partizipatorische Elemente enthält dieses Grundgesetz,
das einschneidende Reformen im Land einleitete.
Die chavistischen Reformen
Kaum mehr als 1% der Landbesitzer kontrollieren 60% der Anbauflächen. Große
Teile des Bodens liegen brach, obwohl Venezuela 70% seiner Nahrungsmittel einführen
muss. Eine Landreform soll den brachliegenden Boden an Campesinos (Landarbeiter/Kleinstbauern)
verteilen, die ihn dann bearbeiten können.
Ein Fischereigesetz soll die Existenz der einfachen Fischer sichern, ihre Rechte
gegenüber der Fischereiindustrie und ihrer Fangflotte stärken und
die ökologisch schädliche Überfischung der Küstengewässer
verhindern.
Die Gewinne der Ölindustrie und anderer Rohstoffquellen soll in größerem
Maße den öffentlichen Haushalten und ihren sozialen und kulturellen
Aufgaben zugute kommen. Die notwendige Bildungsreform hat vor allem die ärmere,
bislang vernachlässigte Bevölkerung im Blick. Luis Britto, Schriftsteller
und Essayist verweist darauf, dass Venezuela über Jahrhunderte hinweg kolonisiert
worden sei: „Das hieß natürlich, Kultur war das, was aus der
Metropole kam. All das, was eingeborene Völker entwickelten, konnte keine
Kultur sein... Wir wurden zu ‚miameros‘. Miami ist auch heute die
geistige Hauptstadt eines ganz bestimmten Lateinamerika.“ Kritik üben
die alten Eliten aber vor allem an der Neuverteilung des Kulturhaushaltes. „Caracas
steckte bisher 80 bis 90% der Gelder für Kultur ein. Nunmehr haben wir
erreicht, dass das Ganze umgedreht wurde. Heute erhält das Landesinnere
70% und Caracas nur noch 30%“ (R.H.Montoya, Direktor eines renommierten
Kulturzentrums). Mit eisigem Schweigen übergingen die Künstler und
Intellektuellen der Hauptstadt den Vorschlag des Kulturministers, Indianer in
die Kulturdebatte einzubeziehen. Auch an der Zentraluniversität, an der
Material über indianische Sprachen und Mythologie verteilt wurde, fanden
diese Studienunterlagen kein Echo. Die vorkolumbianische Kultur interessiert
die auf die USA fixierten Eliten nicht, auch wenn die Chavez-Regierung nur einer
Aufforderung der UNESCO entspricht, die vor dem kulturellen „Artensterben“
warnt. Überall im Landesinneren werden Schulen gebaut, Schulbücher
in indianischen Sprachen gedruckt, damit man den Unterricht zweisprachig gestalten
kann. In den indianischen Schulbüchern werden die Legenden und Erzählungen
der Ahnen, ihre Glaubenswelt und ihre Schöpfungsmythen wiedergegeben und
so für die indigenen Völker und die Weltkultur aufbewahrt. In diesen
über 2000 Ganztagsschulen, in denen die Schüler Frühstück
und Mittagessen erhalten (wichtig für die Ärmsten der Armen), wird
das Weben indianischer Umhänge, das Flechten von Körben, das Anbauen
von Nahrungsmitteln und Heilpflanzen, das traditionelle Jagen, Backen und Kochen
weitergegeben. Auch in den Armenvierteln am Rande der Städte, so der Soziologe
Antonio Almeida, lungern die Kinder und Jugendlichen nicht mehr auf der Straße,
sondern bekommen ihre Chance einer nichtkriminellen beruflichen Existenz. Fast
eine Millionen Schülerinnen und Schüler haben sich neu an Schulen
eingeschrieben. Die Beamten der übernommenen Verwaltung bremsen Programme,
sabotieren Projekte, ziehen die Auszahlung von Geldern an Gemeinden und Bezirke
in die Länge. „Die Gegner sehen den Fortschritt im Bildungswesen
nicht, denn sie haben in 40 Jahren kein derartiges System auf die Beine gestellt,“
so der Soziologe Almeida. Ein wichtiger Baustein der Bildungsreform soll auch
in der Gründung eines Netzes von kommunalen Fernseh- und Rundfunksendern
bestehen, die Kreativität und Selbermachen fördern, sich dem wirklichen
Leben der Menschen zuwenden und die Übermacht privater Kanäle mit
US-amerikanischem Unterhaltungsmüll eindämmen.
Washingtons Einflussnahme
„Die Bindungen zwischen Venezuela und den USA sind sehr weitgehend...
Es gibt Leute, die in den USA studieren, die dort Häuser besitzen und dort
ihre Ferien verbringen. Die USA sind der wichtigste kulturelle Bezugspunkt für
den kosmopolitischen Venezolaner. Es ist offensichtlich, dass das nicht für
diejenigen gilt, die das Land nie verlassen haben und nicht ins Ausland reisen
konnten. Die Elite, die den Ton im Lande angibt, ist den USA gegenüber
sehr positiv eingestellt. Sie fühlt sich als Teil der US-Kultur. Und wenn
dann gar die Regierung die US-Kultur als verderblich hinstellt, die USA als
das Übel der Globalisierung angreift und die mit den USA verbundenen Werte
heftig kritisiert, dann trägt das zur Polarisierung bei,“ so Janet
Kelly, Politologin an einem unternehmernahen Institut.
Die erste Verstimmung zwischen Chavez und der US-Administration entstand, als
die venezolanische Regierung die Überflugsrechte für US-Militärflugzeuge
zur Bekämpfung der kolumbianischen Guerilla verweigerte. Chavez hat nach
dem 11.September kein Blatt vor den Mund genommen. Er kritisierte den Krieg
der US-Regierung gegen Afghanistan: Ob Bomben auf Frauen und Kinder etwa kein
Terror seien? Washington war empört.
Die US-Regierung sieht seitdem die venezolanische Demokratie gefährdet.
Vor dem Staatsstreich im April 2002 trafen sich führende Putschisten und
ihre Hintermänner mit Regierungsoffiziellen in Washington. Venezuela ist
einer der wichtigsten Erdöllieferanten der USA, die es gar nicht gerne
sehen, dass das verhasste Kuba schwarzes Gold aus Venezuela zu Vorzugspreisen
erhält. Argwöhnisch beobachtet Washington außerdem die Freundschaft
mit dem „comandante Fidel“. In dieser, von den USA bislang dank
Billigpreisen wohlwollend betrachteten Ölindustrie will die Regierung den
staatlichen Anteil wieder erhöhen. Doch der Ölkonzern, der durch Tochterfirmen
in den USA und deren Anteilseigner nur noch zu etwa 20% dem venezolanischen
Staat gehört, erhält seine modernsten digitalen Informationsprogramme
von einem US-Konzern, in dem sich ehemalige Verteidigungsminister der USA und
CIA-Chefs die Klinke in die Hand geben. Während des sogenannten Streiks
war es niemandem möglich, den Anker des Öltankers im Hafen zu heben,
weil die digitalen Schaltstellen Ölmanager und US-Informatiker fest in
ihrem System verschlossen hatten (siehe LN 345). Es wird Chavez schwer fallen,
die Verflechtung des Ölkonzerns zu entwirren. Aber bei einem 80%igen Exporterlös
allein aus dem schwarzen Gold und knapp 50% der Staatseinnahmen werden die Reformen
nur dann weitergehen, wenn Chavez das Unmögliche gelingt.
Ausblick
„Einige Teile der Opposition reden über Chavez, als würden wir
unter Stalin oder Fidel Castro leben. Um Gottes Willen, das ist Quatsch!“
meint Teodoro Petkoff, Ex-Guerillero, Ex-Minister und entschiedener Kritiker
des autoritär regierenden Präsidenten. Von den alten Eliten wird immer
wieder der Vergleich zu Kuba gezogen, auf den dann die Medien hier munter einsteigen.
Rodrigo Chaves, Koordinator der bolivarianischen Zirkel, der basisdemokratischen
Volksorganisation, erläutert dazu in einem JW Interview: „Die kubanische
Revolution zerschlug eine Diktatur. In Venezuela verteidigen die Menschen ihre
politischen und sozialen Rechte, die weltweit von der neoliberalen Globalisierung
eingeschränkt werden. Dieser Prozess ist langwieriger, aber auch stärker,
denn Parallelen gibt es in Argentinien, Chile, Uruguay, Peru oder Ecuador. Wir
werden unser Projekt einer partizipativen Demokratie trotz oder gerade wegen
der Widerstände fortsetzen.“ Venezuela ist eben auch ein Beispiel
für den basisdemokratischen Aufbruch der eingeborenen Völker Lateinamerikas,
die gegen Globalisierung und Neokolonialismus der Supermacht USA kämpfen
und ihre Jahrhunderte mit Füßen getretenen Rechte einklagen.
Die bolivarianische Verfassung ist längst noch nicht in allen Teilen verwirklicht
und die Reformen sind kaum begonnen. Manche großspurigen Versprechen des
Volkstribuns sind bislang Worthülsen geblieben. Aber ob Hugo Chavez beweisen
kann, dass er es ernst meint, hängt längst nicht mehr allein von ihm
ab.
Klaus Körner