August 2001
Lateinamerikas
Linke wieder im Aufwind
"El
pueblo unido jamas sera vencido" - "Das vereinte Volk kann niemals besiegt
werden!" Der populäre Kampfruf der lateinamerikanischen Linken ist jedoch,
das fällt heutzutage besonders ins Auge, ausgesprochen defensiv: Die
Volksbewegung kann nicht besiegt werden, aber – selbst vereint – kann sie nicht
siegen, lautet mit einem kurzsichtigen tagespolitischen Blick auf die
Geschichte das Resümee.
Rückblick
Aber
die Geschichte der linken Bewegungen in Lateinamerika ist keineswegs nur eine
des Scheiterns. Die sechziger Jahre waren ein Jahrzehnt des revolutionären
Aufbruchs. Und die siebziger Jahre begannen mit einem erstaunlichen Durchbruch
der demokratischen Linken in Chile. 1970 wurde Salvador Allende, Kandidat der
Unidad Popular, einem Bündnis aus vielen linken Parteien, zum Präsidenten des
Andenlandes gewählt.
Der
Militärputsch 1973 beendete dieses demokratische Experiment, dass auch die
Sowjetunion und die anderen Ostblockländer nicht uneingeschränkt zu akzeptieren
und zu unterstützen bereit waren.
Die
USA als Weltpolizist des Imperialismus wollten diese Emanzipationsbestrebungen
in ihrer "Hemisphäre" nicht dulden und so wurden die siebziger Jahre
zur Stunde der Diktatoren von CIA Gnaden. Das Aufstandsbekämpfungsprogramm des
Weißen Hauses trug Früchte. In der "school of america" an der
Panama-Kanalzone bildeten die USA Zehntausende von lateinamerikanischen
Militärs aus, um ein zweites Kuba mit allen Mitteln zu verhindern und ihre
Rohstoffquellen und Absatzmärkte auf dem Subkontinent zu sichern. Die Militärs
lernten den Antiguerillakrieg und die dazugehörigen Foltertechniken, aber vor
allem, dass die Interessen der USA ihre eigenen Interessen seien. "Doktrin
der Nationalen Sicherheit" wurden diese Methoden zur Verteidigung der
"freien Welt" genannt.
Nachdem
Zehntausende Aktivisten der linken Bewegungen ermordet waren und
Hunderttausende ins Exil getrieben wurden, stand der Sozialismus für den Cono Sur
nicht mehr auf der Tagesordnung.
Ausnahmen
bildeten Kolumbien und Zentralamerika, wo Guerillabewegungen an politischem
Einfluss gewannen. 1979 siegte in Nicaragua die sandinistische Revolution und
die Möglichkeit einer Machtübernahme durch die FLMN (Befreiungsbewegung) in El
Salvador Anfang der achtziger Jahre fand in ganz Lateinamerika große Beachtung.
Nicaragua
wurde mit seinem selbst postulierten dritten Weg zwischen Kapitalismus und
Sozialismus zum neuen Hoffnungsträger für die Linken – zugleich aber auch zur
Angriffsfläche der Supermacht im Norden. Unter Reagan griff die
US-Administration immer ungeschminkter zu staatsterroristischen Mitteln, wie
die offene Finanzierung der Contra (Söldner, die im Hinterland Nicaraguas
wichtige ökonomische Zentren in die Luft jagten) und die Verminung der
nicaraguanischen Häfen durch die CIA zeigte. Im Namen von Freiheit und Demokratie
wurden Millionen von Dollars – zum Teil aus Drogengeschäften der CIA stammend –
eingesetzt, um Nicaragua jede Chance zu nehmen, aus der Unterentwicklung
auszubrechen.
Auch
in El Salvador kannten die USA keine finanziellen oder moralischen Grenzen –
wie die Ermordung des Erzbischofs von San Salvador Oscar Romero während eines
Gottesdienstes versinnbildlicht. Mit Ausnahme der Entsendung massiver eigener
Truppen aus traumatischer Vietnam-Erfahrung, war ihnen jedes Mittel recht, um
ein zweites Kuba in ihrem "Hinterhof" zu verhindern. Nach zwölf
Jahren Bürgerkrieg, in dem keine Seite zu siegen vermochte, wurde ein
Friedensabkommen geschlossen, das einerseits der Guerillabewegung politische
Rechte im Rahmen einer Demokratie der ökonomischen Elite einräumte und den
Einfluss und die Stärke der Armee reduzierte, andererseits an der Wirtschafts-
und Sozialstruktur El Salvadors jedoch nichts veränderte.
Der
Wandel der Linken
Während
in Zentralamerika noch der von den USA finanzierte und strategisch-logistisch
geleitete Bürgerkrieg tobte, versuchten linke Bewegungen die Strukturen der
Militärdiktaturen Südamerikas aufzubrechen und langsam wieder in Demokratien zu
verwandeln. Das Gesicht dieser Volksbewegungen hatte sich jedoch seit den
achtziger Jahren wesentlich gewandelt. Es waren weniger traditionelle
politische Parteien als Volksorganisationen der Bauern, der Frauen, der
Indigenas (Ureinwohner), Vertretungen von Stadtteilen und Slumsiedlungen,
Initiativen in ökologisch gefährdeten Regionen, christliche Basisgemeinden der
Theologie der Befreiung und dezentrale Gewerkschaftsgruppen, die diesen
Demokratisierungsprozess beharrlich zu gestalten versuchten.
Stand
auch die Revolution oder der Aufbau des Sozialismus nicht mehr an erster Stelle
in den Programmen der Linken, so ist damit der Horizont politischen Denkens
nicht unbedingt kleiner geworden. Gerade die neuen Volksbewegungen haben den
Anspruch, ihr soziales Umwelt radikal zu verändern, mit kleinen aber energischen
Schritten umzusetzen begonnen. Die brasilianische Landlosen-Bewegung MST oder
die ecuadorianische Indigena-Bewegung CONAIE, die Anfang des Jahres aus Protest
gegen die von der Regierung diktierte Erhöhung der Gas- und Benzinpreise
wichtige Verkehrsadern ihres Landes blockierten, sind dafür Beispiele. Oft
agieren solche Bewegungen nur auf regionaler oder lokaler Ebene, jedoch ist
deshalb ihre Bedeutung für die Verbreitung emanzipatorischen Denkens und
basisdemokratischer Strukturen nicht zu unterschätzen.
Die
lateinamerikanischen Militärs zogen sich im Rahmen des
Demokratisierungsprozesses in ihre Kasernen zurück. Für die Reaktion - die USA,
das internationale Finanzkapital, die herrschenden nationalen Eliten – hatten
sie ihre Schuldigkeit getan:
·
die
Ansätze einer nationalen Produktionsstruktur zerschlagen,
·
die
Märkte geöffnet und
·
exportorientierte
Ökonomien durchgesetzt,
schlicht
der Globalisierung und dem Neoliberalismus zum Siege verholfen.
Perspektiven
Der
Zusammenbruch des Ostblocks und die Dollarisierung Kubas versetzten die
lateinamerikanische traditionelle Linke in eine schwere Identitätskrise. Zwar
waren sie dem realsozialistischen Modell a la Sowjetunion, DDR oder China nie
blind gefolgt, aber das Triumpfgeheul des real existierenden Kapitalismus
Anfang der neunziger Jahre, der sich als Krönung und Ende der Geschichte feiern
ließ, prägte auch sie.
Die
Spielräume für emanzipatorische Politik sind heute in Lateinamerika bedeutend kleiner
geworden. Die Hegemonie der USA ist geradezu lähmend und die Chancen einer
eigenständigen Wirtschaftsstrategie in den Zeiten der Globalisierung sind noch
begrenzter als früher.
Einige
linke Parteien, wie die sozialistische Partei Chiles, haben Anstrengungen um
einen ökonomischen und sozialen Alternativentwurf für ihr Land aufgegeben und
betreiben das neoliberale Spiel der Globalisierungssieger resignierend mit.
Auch wenn die FMLN in El Salvador oder die Frente Amplio in Uruguay die
nächsten Wahlen gewinnen sollten, sind für ihre Länder keine grundsätzlichen
sozialen oder ökonomischen Veränderungen zu erwarten.
"Die
Verunsicherung nach 1989/90 hat bei anderen Akteuren aber auch neue
Handlungsoptionen eröffnet: eine gewisse Entideologisierung ermöglicht einen
klareren Blick auf die Realität, und in manchen Fällen sind durchaus inovative
politische und soziale Projekte entstanden."
Der
Zapatismus
"Das
beste Beispiel dafür... ist die mexikanische EZLN (Zapatistische
Befreiungsorganisation), die zentrale politische Begriffe... mit (neuen)
Inhalten gefüllt hat. Eine Befreiungsbewegung, die nicht an die Macht will, comandantes,
die sich vermummen, um der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten, eine
Kommandantin, die im mexikanischen Kongress über ihre Situation als Frau und
Indigena berichtet – zweifelsohne, die EZLN ist eine durch und durch andere und
neue Bewegung"(Lateinamerika-Nachrichten 325/326, S.29, Juli/August 2001).
In
wesentlichen Aspekten unterscheiden sich die Zapatistas von der traditionellen
lateinamerikanischen Linken durch:
·
ihren
Verzicht auf staatliche Macht,
·
ihren Anti-Avantgardismus,
·
ihr
Selbstverständnis nur Teil eines natürlich nicht beliebigen
"Suchprozesses" zu sein,
·
ihr
bewußtes Aufgreifen verschiedenster Traditionen, der der Maya, der der
Theologie der Befreiung und der der sozialistischen Linken.
·
Ihre
Dialog- und Bündnisfähigkeit,
·
Ihren
basisdemokratischen Ansatz, der die Selbstorganisation im Blick hat, aber auch
vor tagelangen Palavern indianischer Tradition nicht zurückschreckt,
·
Ihre,
auch bei militärischen Organisationsformen, Scheu vor vertikalen
Autoritätsstrukturen.
Bezeichnend
für diese revolutionäre Praxis ist die von Hunderttausenden erwartete Rede, die
Subcomandante Marcos, in dem viele gegen das zapatistische Politikverständnis
den neuen lider, den Che Guevara des 21. Jahrhunderts sehen, am 11.März
diesen Jahres in Mexiko-Stadt mit folgenden Worten beendete: "Mexiko, wir
sind nicht gekommen, um dir zu sagen, was zu tun ist; wir sind nicht gekommen,
um dich irgendwo hinzuführen; wir sind gekommen, um dich bescheiden... zu
bitten, uns zu helfen!"
In
dem zapatistischen Motto "preguntando caminamos" (fragend
schreiten wir voran) verdichtet sich ein Politikverständnis, das sich als
Prozess und Reflexion begreift. Dieser Suchprozess zeigt sich auch in ihrer oft
poetischen Sprache, einer Sprache, die den Mayamythen ebenso nahe steht wie den
Versen Ernesto Cardenals.
Linkes
Politikverständnis in Lateinamerika, aber nicht nur dort, ist meist
etatistisch: gesellschaftliche Veränderungen sollen über den Staat erreicht
werden. Für die Zapatistas beginnt gesellschaftliche Veränderung jedoch mit
breiten Lern- und Organisierungsprozessen, ist widersprüchlich und langwierig
und basiert darauf, dass Menschen von einem neuen, einem anderen Handeln
überzeugt sind. Sie verzichten auf staatliche Macht, weil es ihnen nicht um das
Auswechseln der Eliten an der Spitze des Staates geht, sondern um die
grundlegende Veränderung seiner Strukturen. Politisches Denken heißt für die
chiapanekischen RebellInnen Begriffen eine neue, orientierende Funktion zu
geben: Der Begriff Würde verkommt bei ihnen nicht zu einer Sprachhülse für
Sonntagsreden und Verfassungsgeschwätz, sondern er wird Anlass, sich über die
konkreten unwürdigen Lebensbedingungen Klarheit zu verschaffen –
und sie zu verändern, in dem sie diesen Begriff der Herrschaftskritik aus ihrer
fünfhundertjährigen Erfahrung unterziehen und ihn neu besetzen. So politisieren
sie die ganze mexikanische Zivilgesellschaft.
Entscheidend
für die mexikanische Linke, ja die Linke ganz Lateinamerikas, wird nicht der
show down der globalen Medien - Präsident Fox contra Subcomandante Marcos -
sein, sondern die kreative Begleitung und Förderung der kleinen, lokalen und
regionalen Veränderungen, der Fermentierungsprozesse unter der Bevölkerung und
das stetige Wachsen der befreienden Selbstorganisation der Armen.
Socialismo
brasileiro
Die
Bewegung der Landlosen in Brasilien (MST) gilt als wichtigste soziale
Organisation des Landes, wenn nicht ganz Lateinamerikas. Der Bekanntheitsgrad
beruht zu einem guten Teil auf ihren spektakulären Aktionen: Landbesetzungen,
Mahnwachen vor der Präsidentenfazenda, Zerstörung von Gentechfeldern. Seit
ihrer Gründung 1984 hat die MST herkömmliche Organisationsschema der Linken
bewußt vermieden. Mitglieder werden die ganzen Familien, nicht nur die
erwachsenen Männer, was in einer vom Machismo geprägten Gesellschaft viel
bedeutet. Nicht nur landlose Landarbeiter haben Zugang zur MST. Dazu verfolgt
die Landlosen-Bewegung nicht nur gewerkschaftliche, sondern auch konkret
politische Ziele: Streng marxistisch gesagt, die Agrarreform als wesentlicher
Teil des "Klassenkampfes". Als Basisorganisation besteht jedoch kein
Hang zur Parteipolitik, wobei die PT (Partei der Arbeit) selbstverständlich als
natürlicher Verbündeter gilt. Eine kollektive Führung soll Korruption und
Vetternwirtschaft verhindern und besseren Schutz vor Repressionen bieten.
Disziplin, Basisbezug und ständige Fortbildung werden von den Führungsgremien
verlangt. Die politische Verfolgung durch staatliche Behörden wie
paramilitärische Banden der Großgrundbesitzer erlauben es nicht,
Entscheidungsprozesse transparent zu machen. Jedoch ist ein
"demokratischer Zentralismus" in der KP-Tradition schon deshalb nicht
möglich, aber auch nicht gewollt, weil die Führungsgremien der einzelnen
Bundesstaaten gegenüber der nationalen Leitung eine große Autonomie besitzen.
Politisch
fordert die Landlosen-Bewegung eine binnenzentrierte Landwirtschaft.
Favorisierte die nationale Leitung der MST noch vor ein paar Jahren die
kollektive, hochmechanisierte Agrarindustrie für Brasilien, so werden die
Stimmen immer lauter und zahlreicher, die einen arbeitsintensiven Bioanbau
fordern – der Bauer als Hüter der Erde und der Natur. In den schon jahrelang
von der MST besetzten Gebieten produzieren die Kooperativen auf die
unterschiedlichste Weise. Die Debatte um die richtige Agrarpolitik ist, ebenso
wie in Europa, in Brasilien noch lange nicht beendet.
Das
größte Verdienst kommt der MST bei der Alphabetisierung der Armen Brasiliens
zu. Nicht nur die marxistischen Autoren werden studiert, sondern Schriften von
Brasilianern wie Paulo Freire, Darcy Ribeiro, Frei Betto, Leonardo Boff und den
lateinamerikanischen Ikonen Jose Marti und Che Guevara. Die Väter der Gewaltfreiheit
Gandhi und Luther King stehen ebenfalls hoch im Kurs.
Auch
wenn die Medien der MST ständig Gewalttaten unterstellen, lehnt sie selbst den
bewaffneten Kampf ab. Gegen die strukturelle Gewalt der sozialen und
ökonomischen Bedingungen des Staates antwortet die Volksbewegung mit Gewalt
gegen Sachen, indem sie ein Konzernbüro demoliert oder einen Supermarkt
plündert, in dem allein ausländische Billigprodukte angeboten werden.
Kontinentale
Vernetzung sozialer Bewegungen
Das
Gesicht der linken Bewegungen wird immer farbiger und ihre Ansichten immer
vielstimmiger. Das Erwachen des lateinamerikanischen Volkes aus
fünfhundertjähriger Unterdrückung hat erst begonnen. Die Frauenbewegung und die
Indigena-Bewegung vernetzten sich kontinental und tragen kraftvoll auf
internationalen Kongressen und kontinentalen Meetings ihre Forderungen nach
Befreiung aus Unterdrückung und Abhängigkeit vor.
Der
Kampf gegen die ökonomische Hegemonie der USA schließt unterschiedlichste
antiimperialistische Gruppierungen zusammen. Die kontinentalen Netzwerke gegen
Globalisierung und US-amerkanisch dominierte Freihandelszonen von Feuerland bis
Alaska lassen sich nicht in ein starres Links-Rechts-Schema einsortieren; fest
steht jedoch, dass der Widerstand gegen die neoliberalen Entwicklungen den
Interessen der meisten AmerikanerInnen dient. "Ein anderes Amerika ist
möglich", ist der Slogan der Alllianz gegen die Freihandelszone ASC
(Allianza Social Continental). "Wir lehnen das Projekt der Liberalisierung
des Handels, der Investitionen, der Deregulierung und Privatisierung ab. Wir
stellen uns einem neoliberalen, rassistischen, ungerechten und die Umwelt
zerstörenden Vorhaben entgehen. Wir schlagen den Aufbau neuer kontinentaler
Integrationsstrategien vor, die auf Demokratie, Gleichheit, Solidarität, dem
Respekt vor der Umwelt und den Menschenrechten beruhen..."
Tiefgreifende
gesellschaftliche Veränderungen benötigen gleichsam umfassende
"kulturrevolutionäre" Prozesse zuerst im Kopf und dann im Handeln der
Menschen. Dies findet heutzutage in den neuen sozialen Bewegungen
Lateinamerikas statt, in sehr autoritär strukturierten Gesellschaften mit einer
autoritäts- und staatsgläubigen traditionellen Linken. Aller Ambivalenzen zum
Trotz versucht die Neue Linke solche Veränderungsprozesse zu fördern.
Klaus
Körner