Mai
2001
Subcomandante Marcos
Geschichten vom Alten
Antonio
...Gestern
traf ich zum ersten Mal auf den Alten Antonio. Beide logen wir. Er sagte, dass
er auf dem Weg zu seinem Maisfeld sei. Ich sagte, ich sei auf der Jagd. Beide
wußten wir, dass wir logen, und wir wußten, dass wir es wußten. Ich... näherte
mich erneut dem Fluss, um zu sehen, ob ich auf der Karte einen sehr hohen
Hügel, der vor mir lag, einordnen konnte, und um zu sehen, ob ich erneut auf
den Alten Antonio reffen würde. Er muss das gleiche gedacht haben, denn er
erschien an dem Ort des vorherigen Treffens.
So wie
gestern setzt sich der Alte Antonio auf den Boden, wickelt sich seinen
moosgrünen huapac um und dreht sich eine Zigarette. Ich setzte mich vor ihn und
zünde die Pfeife an. Der Alte Antonio beginnt: "Du jagst nicht."
Ich antworte:
" Und Sie sind nicht auf dem Weg zu Ihrem Maisfeld." Irgend etwas
bringt mich dazu, ihn respektvoll anzureden, diesen Mann undefinierbaren Alters, das
Gesicht gefurcht wie Zedernrinde, den ich zum zweiten Mal in meinem Leben sehe.
Der Alte
Antonio lacht und fügt hinzu: "Ich habe von euch gehört. In den Tälern wird
gesagt, ihr wäret Banditen. In meinem Dorf sind sie besorgt, ihr könntet in
dieser Gegend umherziehen."
"Und
glauben Sie, dass wir Banditen sind?", frage ich. Der Alte Antonio stößt
eine große Rauchwolke aus, hustet und verneint. Ich raffe mich auf und stelle
ihm eine andere Frage: "Und was glauben Sie, was wir sind?"
"Ich
ziehe vor, dass du es mir sagst", antwortet der Alte Antonio und schaut
mir in die Augen.
"Es ist
eine lange Geschichte", sage ich und fange an zu erzählen, dass Zapata und
Villa und die Revolution und das Land und die Ungerechtigkeit und der Hunger
und die Ignoranz und die Krankheit und die Repression und all das und ende dann
mit einem "und deshalb sind wir die Zapatistische Armee der Nationalen
Befreiung". Ich warte auf irgendein Zeichen im Gesicht des Alten Antonio,
der während meiner Rede nicht aufgehört hat, mich anzusehen.
"Erzähl
mir mehr von diesem Zapata", sagte er nach Rauch und Husten.
Ich fange mit
Anecuilco an, fahre mit dem Plan von Ayala fort, mit der Militärkampagne, mit der
Organisierung der Dörfer, dem Verrat von Chinameca. Der Alte Antonio schaut
mich weiter an, während ich die Erzählung beende.
"So war
das nicht", sagt er mir. Ich mache eine Geste des Erstaunens und kann nur
ein "Nein?" stottern.
"Nein",
insistiert der Alte Antonio. "Ich werde dir die wahre Geschichte dieses
Zapata erzählen."
Tabak und
Blättchen herauskramend, beginnt der Alte Antonio seine Geschichte, die alte
und neue Zeiten vereint und vermischt, genauso wie sich der Rauch meiner Pfeife
und seiner Zigarette vereinen und vermischen.
Vor vielen
Geschichten, als die allerersten Götter, die die Welt erschaffen hatten, noch
Runden in der Nacht drehten, sprachen zwei Götter miteinander, die Ik`al und
Votan waren. Zwei waren aus einem einzigen. Drehte sich einer um, zeigte sich
der andere, drehte sich der andere, zeigte sich der eine. Sie waren
Gegenstücke. Der eine war Licht, wie ein Maimorgen am Fluss. Der andere war
dunkel, wie die Nacht der Höhle. Sie waren das Gleiche. Sie waren eins die
beiden, weil der eine den anderen formte. Aber sie gingen nicht, immer standen
sie still, die zwei Götter, die einer waren, ohne sich zu bewegen.
"Nun,
was machen wir?", fragten die zwei. "So wie wir sind, ist ein Leben
ganz schön traurig", trauerten die zwei, die in ihrem Sein einer waren.
"Die Nacht geht nicht vorbei", sagte Ik´al. "Der Tag geht nicht
vorbei", sagte Votan. "Lass uns losgehen"; sagte der eine, der
zwei war. "Wie?", fragte der andere. "Wohin?", fragte der
eine. Und sie sahen, dass sie sich so ein wenig bewegt hatten, dadurch, dass
sie zuerst "wie?" und dann "wohin?" gefragt hatten.
Zufrieden wurde der eine, der zwei war, als er sah, dass sie sich ein wenig
bewegt hatten. Die zwei wollten sich gleichzeitig bewegen, und sie konnten es
nicht. "Wie sollen wir es nun machen?" Und es zeigte sich zunächst
der eine und danach der andere, und sie bewegten sich ein weiteres bisschen,
und sie bemerkten, dass sie sich, wenn sich erst der eine und dann der andere
bewegte, schon bewegen konnten.
Und so kamen
sie überein, dass, um sich zu bewegen, erst der eine und dann der andere sich
bewegen müsste, und sie begannen, sich zu bewegen. Keiner kann sich daran
erinnern, wer als erster damit begonnen hatte, sich zu bewegen, weil sie so glücklich waren,
dass sie sich schon bewegt hatten. "Es ist doch egal, wer der erste war,
wenn wir uns bewegen können", sagten die zwei Götter, die einer waren, und
sie lachten, und der erste Entschluss, den sie fassten, war, ein Tänzchen zu
wagen, und sie tanzten - einen kleinen Schritt der eine, einen kleinen Schritt
der andere, und lange tanzten sie vor sich hin, denn sie waren glücklich, dass
sie sich gefunden hatten. Kurz danach wurden sie müde vom ganzen Tanzen und
fragten sich, was sie sonst tun könnten, und sahen, dass die erste Frage
"wie kommen wir voran?" die Antwort mit sich brachte: "Zusammen,
aber getrennt und in gegenseitiger Übereinstimmung." Und diese Frage
kümmerte sie schon nicht mehr, denn als sie es bemerkten, bewegten sie sich
bereits, und dann kam die andere Frage, als sie sahen, dass es zwei Wege gab:
Der eine war sehr kurz, und bis dorthin nur verlief er, und deutlich war zu
sehen, dass ganz in der Nähe dieser Weg endete.
Und so groß
war die Lust zu laufen, die sie in ihren Füßen verspürten, dass sie ganz
schnell sagten, dass sie den Weg, der kurz war, nicht gerne gehen wollten, und
sie beschlossen, den langen Weg zu gehen. Und sie begannen schon zu gehen, als
die Antwort auf die Auswahl des Weges ihnen eine andere Frage brachte: "Wo
führt dieser Weg hin?" Sie hielten sich damit auf, über die Antwort
nachzudenken, und die zwei, die einer waren, erkannten in ihrem Kopf ,dass sie
nur dadurch, dass sie den langen Weg gingen, wissen würden, wohin er führt,
denn dort, wo sie waren, würden sie niemals wissen, wohin der lange Weg führt.
Und dann sagte sich der eine, der zwei war: "Also, lass ihn uns
gehen!" Und sie gingen los - zuerst der eine, dann der andere. Und schon
bald bemerkten sie, dass es sehr lange dauerte, den langen Weg zu gehen, und so
erschien die nächste Frage: "Wie werden wir es machen, um so lange Zeit
gehen zu können?" Und sie hielten inne und dachten eine ganze Weile nach,
und Ik`al sagte ganz klar, dass er nicht wisse, wie er am Tag gehen solle, und
Votan sagte, dass er bei Nacht Angst habe zu gehen. Und sie weinten eine ganze
Weile, und bald darauf, als das Schluchzen beendet war, sprachen sie sich ab
und sahen, dass Ik`al gut des Nachts und dass Votan gut am Tage gehen konnte
und dass der Ik`al bei Nacht Votan tragen würde, und so kamen sie zur Antwort, wie
sie die ganze Zeit gehen könnten. Seither gehen die Götter mit Fragen vorwärts
und bleiben nie stehen, kommen nie an und gehen nie fort. So lernten die
wahrhaften Männer und Frauen, dass Fragen dazu dienen, um zu gehen, und nicht
dazu, einfach nur still zu stehen. Seither fragen die wahrhaften Männer und
Frauen, verabschieden sich bei der Ankunft und begrüßen sich zum Abschied. Sie
bleiben nie stehen.
Ich verharre,
kaue auf dem bereits kurzen Mundstück der Pfeife und warte darauf, dass der
Alte Antonio fortfährt. Aber es scheint so, als habe er schon nicht mehr vor,
dies zu tun. Mit der Angst, etwas sehr Ernstes zu unterbrechen, frage ich: "Und
Zapata?"
Der Alte Antonio lacht: "Du hast schon gelernt,
dass man, um etwas zu lernen und um zu gehen, fragen muss." Er hustet und
steckt sich eine andere Zigarette an, von der ich nicht weiß, wann er sie
gedreht hat, und aus dem Rauch, der seinen Lippen entströmt, fallen die Worte
wie Samenkörner auf den Boden:
"Dieser
Zapata tauchte eines Tages hier in den Bergen auf. Sie sagen, dass er nicht
geboren wurde. Er tauchte einfach auf. Sie sagen, dass er Ik`al und Votan ist,
die hierher kamen, um auf ihrem langen Weg anzuhalten, und dass sie, um die
guten Menschen nicht zu erschrecken, als eine einzige Person auftraten...
"Und
Zapata sagte, dass er bis hierher gekommen sei, um die Antwort darauf zu
finden, wohin der weite Weg nun führe, und er sagte, dass er manchmal Licht
sein werde und manchmal Dunkelheit, aber dass er derselbe sei, Votan Zapata und
Ik`al Zapata, der weiße Zapata und der schwarze Zapata, und dass die beiden der
gleiche Weg für die wahrhaften Männer und Frauen seien."
Der Alte Antonio nimmt eine kleine Plastiktüte aus seinem Rucksack. Darin steckt ein sehr altes Foto von 1910,von Zapata. In der linken Hand trägt Zapata ein Schwert auf Taillenhöhe. In der rechten hält er eine Pistole, zwei Patronengurte kreuzen seine Brust, eine Schärpe in zwei Farben, schwarz und weiß, kreuzt von links nach rechts. Seine Füße sind so wie bei jemandem, der stillsteht oder geht, und in dem Blick liegt so etwas wie "Hier bin ich!" oder "So gehe ich voran"...
aus: Subcomandante Marcos, Geschichten vom Alten Antonio,
Hamburg 1997