September 2000
Teil
1:
Ein Gespräch mit jungen
französischen Regisseuren.
Berlin, September 1992
Heiner
Müller, Sie haben viel über deutsche Geschichte, vor allem aber über den
Nationalsozialismus geschrieben. Ist das ein spezifisch deutscher Theaterstoff?
Mao Tse-tung hat gesagt, der
Nationalsozialismus war unbesiegbar, solange er im Angriff war. Es war ein
Angriff ins Leere, in den leeren Raum, nur Bewegung, keine Reserven. Als der Angriff
vor Moskau zum stehen gebracht wurde, war es vorbei. Der erste Stopp war schon
das Ende. Und der Kessel von Stalingrad ist der Sarg von Attila. Der einzig
nationale Stoff sind die Nibelungen.
Ist Auschwitz nicht auch ein
nationaler Stoff? Ist es überhaupt möglich, mit diesem Stoff im Theater
umzugehen?
Das ist schwierig. Ich habe
mal in Jugoslawien mein Leben riskiert. Da gab es ein Gastspiel der Volksbühne,
eine Aufführung von SCHLACHT. Hinterher war eine Diskussion. Da habe ich
leichtsinnigerweise gesagt: Hitler war schlecht in Geographie, er hat mitten in
Europa gemacht, was ein anständiger Europäer nur in Afrika oder in Asien oder
in Lateinamerika macht. Genozid war normal in Kolonien, aber in Europa nicht
mehr üblich. Das war Hitlers Abweichung. Der andere Punkt ist, daß der deutsche
Antisemitismus wahrscheinlich deshalb so besonders grausam war, weil er auf
einem uralten Trauma beruht. Von heute aus gesehen erscheint es sehr
merkwürdig, daß die Terminologie der Nazis häufig jüdisch war, zum Beispiel das
“Tausendjährige Reich”, ein jüdischer Terminus. Bis 1933 gab es mehr
Antisemitismus in Polen, in Rußland, in Osteuropa. In Deutschland war das
verdeckter, im Gegensatz auch zu Frankreich oder den USA. Dazu gibt es eine
Theorie, die ich ganz interessant finde. Nach dem Ende Roms kamen die ersten
christlichen Missionare zu den Franken, das war der germanische Hauptstamm in
Frankreich und Deutschland. Die Missionare haben den Franken gesagt: Ihr seid
das auserwählte Volk, ihr müßt als erste das Kreuz nehmen. Und sie haben das
Kreuz genommen. Hundert Jahre später kamen die Juden nach Europa, ein anderes
auserwähltes Volk. Es kann nicht zwei auserwählte Völker geben, also mußte
eines weg. Das ist völlig irrational, aber das haben die Nazis aus dem nationalen
Unterbewußtsein wieder hochgeholt.
Das hängt auch mit der
Person von Hitler zusammen. Es gibt dazu eine Legende, daß nach dem Anschluß
von Österreich der erste geheime Befehl von Hitler gewesen sein soll, ein
kleines Dorf in Oberösterreich zu evakuieren und zu zerstören. Das wurde ein
Truppenübungsplatz.
Und es soll das Dorf gewesen
sein, wo eine von Hitlers Großmüttern begraben lag. Es lief das Gerücht um, daß
diese Großmutter eine Liaison mit einem Juden hatte. Auch daraus resultierte
die Energie von Hitler, seine Angst und sein Haß auf das eigene jüdische Blut,
das er zu haben glaubte. Ein anderer Aspekt dieser Energie ist vielleicht, daß
der Nationalsozialismus nur als eine ständige Bewegung denkbar war. Hitler hat
nie von der Partei, sondern immer von der Bewegung gesprochen. Da gibt es auch
eine Entsprechung bei Kleist: Die Deutschen wollen immer weg von sich selber,
aber diese Bewegung stößt auf Grenzen.
Das Hauptproblem waren in
diesem Zusammenhang die Juden, die waren nicht integrierbar, da war ein
Widerstand. Außerdem lieferten die Juden ein Alibi. Sie waren die Kapitalisten
für die Bevölkerung, der Ersatz für alle antikapitalistischen Energien von
Links und Rechts. Über die Geldwirtschaft kam der Kapitalismus nach Polen und
Rußland. Im Mittelalter war es nur den Juden erlaubt, Zinsen zu nehmen, weil
das in der Bibel als unchristlicher Wucher galt, also gründeten sie Banken und
Leihhäuser.
Dadurch wurden Juden der
ideale Ersatzfeind. Damit hängt auch zusammen, daß der Anfang der
nationalsozialistischen Bewegung antikapitalistisch war. Es gibt Belege dafür,
daß die SA am Anfang, ab 1933, zum großen Teil aus ehemaligen deutschen
Kommunisten bestand. Dadurch ist ein Großteil linker Energie von den Nazis
aufgenommen worden.
Karl Korsch schrieb in einem
Brief an Brecht, als die Wehrmacht Kreta besetzt hatte: “Der Blitzkrieg ist
gebündelte linke Energie.” Der Nationalsozialismus war eigentlich die größte
historische Leistung der deutschen Arbeiterklasse.
Ist das Ihr Ernst?
Man kann es auch so formulieren:
Der Blitzkrieg oder Bewegungskrieg war nach der gescheiterten Revolution von
1848 die Herausführung der deutschen Arbeiterklasse aus dem Staus der
Ausgebeuteten in den Jägerstatus. Sie zogen in den Krieg und wurden Jäger.
Das hört man in jeder Kneipe.
Die Kriegserinnerung, das ist das große Freiheitserlebnis. Der Krieg wurde zum
Ersatz für die Revolution, genauso wie jetzt die Krawalle gegen Ausländer
wieder der Ersatz sind für die nicht zu Ende geführte Revolution.
Die Juden wurden zum Ersatzfeind, weil man die wirklichen Kapitalisten brauchte, die haben schließlich den Krieg finanziert. Sie standen hinter Hitler, und deswegen kam man nicht an sie ran.
Aber man hat doch auch
jüdische Kapitalisten enteignet und in den Konzentrationslagern umgebracht?
Ja, aber die
kriegsentscheidenden Industrien, vor allem die Schwerindustrie, waren in
deutscher Hand; Flick, Krupp, Thyssen. Was jetzt mit dem Osten passiert, das
ist der Traum der deutschen Industrie. Die haben es mit Hitler versucht, aber
das klappte nicht. Jetzt haben sie ihr Kriegsziel erreicht: Der Osten liegt
ihnen zu Füßen, als Markt und als Arbeitsmarkt. Es gab schon 1943 in Madrid und
in London geheime Konferenzen von deutschen britischen und amerikanischen
Industriellen über die Aufteilung der Märkte des Ostens nach dem Krieg, weil
sie ahnten, mit Hitler klappt es nicht mehr. Sie haben sich damals verrechnet
und werden sich wieder verrechnen. Sie haben Rußland nie verstanden. Da gibt es
eine schöne Geschichte von Leskow über Rußland, im Zusammenhang mit Napoleon.
Leskow schreibt: Rußland ist wie ein Sauerteig, da kann man mit der Faust
reinschlagen, mit dem Stiefel reintreten, mit der Axt reinhacken, und wenn man
Stiefel oder Axt herauszieht, quillt der Teig wieder hoch und ist wie vorher.
Haben Sie eine Erklärung für
die Aggressivität der Deutschen?
Dafür gibt es vielleicht
eine historisch - ökonomische Erklärung: Die Deutschen sind immer zu spät
gekommen, vor allem zu Aufteilung der Welt. Während Friedrich der Große seine
regionalen Kriege geführt hat, haben sich die Franzosen und Engländer die Welt
aufgeteilt, und deshalb bekamen die Deutschen keine Kolonien ab.
Dadurch wurde der deutsche
Kapitalismus der dynamischste in Europa, mit Erfindungsgeist und einer
ungeheuren Produktionskapazität, die keine Peripherie hat. Das ist eine
historisch - ökonomische Erklärung für
die spätere Erfindung des technisierten Massenmords. Wenn man Kolonien hat,
dann verteilt sich das aggressive Potential einer Nation über die gesamte Welt.
In Deutschland blieb es konzentriert.
Dazu kommen noch ein paar
Ereignisse aus der deutschen Geschichte, die den Nationalcharakter geprägt
haben. Deutschland liegt in der Mitte Europas, deshalb fanden alle Kriege
letztlich in Deutschland statt. Es war für die Deutschen nie ein Krieg denkbar,
der kein Zweifrontenkrieg war. Die Engländer oder Franzosen konnten ihre
Verbrecher nach Australien schicken oder nach Algerien. Da konnten sie
massakrieren, während in Deutschland die Verbrecher im Land blieben und damit
natürlich auch die kriminelle Energie des Kapitals. Aber es gab eine Diskrepanz
zwischen der Ideologie der Nazis und den Interessen der deutschen Industrie.
Aus der Sicht der deutschen Industrie war der Krieg vor allem ein Krieg um
Arbeitskräfte. Für die Nazis ging es aber wegen Hitlers Rassentheorien um die
Vernichtung von Arbeitskräften. Das westdeutsche Wirtschaftswunder ist ein
Ergebnis von Auschwitz. Alle großen deutsche Konzerne haben in Auschwitz
arbeiten lassen, auch in anderen Lagern, in Allianz mit der amerikanischen und
britischen Industrie.
Gibt es dafür Beweise?
Es gibt Dokumente in
Washington, aus denen hervorgeht, daß die Amerikaner schon sehr früh
Flugaufnahmen von Konzentrationslagern hatten. Churchill wußte von deren
Existenz seit 1941. Diese Erkenntnisse waren geheim, weil IG Farben, Krupp und
Thyssen da ihre Produkte ausprobiert haben, in enger Geschäftsverbindung mit
amerikanischen Konzernen. Eigentlich ging es für die Amerikaner immer um die
Vernichtung der Sowjetunion.
Warum glauben Sie, gibt es von
seiten der Linken immer noch Berührungsängste mit dem jüdischen Thema?
Ich habe 1962 einen Text
geschrieben für einen Dokumentarfilm über das KZ Buchenwald. Da gab es
Material, aus dem hervorging, daß in dem Außenlager Dora, wo Teile für die V1
und für die V2 hergestellt wurden, Wernher von Braun aus und einging. Wir
wollten natürlich diese Aufnahmen in dem Film verwenden. Das wurde uns verboten
mit dem Argument, daß es im KZ Oranienburg, wo auch die V2 produziert wurde,
Dokumente gäbe, aus denen hervorgehen sollte, daß Manfred von Ardenne, der
unser Chefphysiker war, im KZ Oranienburg arbeiten ließ. Diese Forschungen
bildeten später die Grundlage für die Raumfahrt und Raumfahrtmedizin, und
Ardenne hat dann für die Russen gearbeitet. Natürlich darf man auch nicht die
ungeheure Propagandamaschine der Nazis vergessen, die es geschafft hat, einem
Großteil der Bevölkerung zu suggerieren, daß die Juden Ungeziefer sind. Die
Mehrheit des deutschen Volkes wußte aber auch deshalb nicht genau, was in den
KZs vor sich ging, weil die Westmächte ihre Informationen drüber zurückgehalten
haben, denn sie hofften, das Hitler die Sowjetunion zerschlagen würde. Hitler
war der deutsche Schäferhund, dem man eine ganz lang Leine gelassen hat, damit
er die Kommunisten wegbeißt, und dann, als er wild wurde, mußte man ihn
totschlagen.
Fortsetzung im nächsten
Heft!